von Andreas Ziörjen
Sie sitzen jetzt wahrscheinlich gerade vor einem Computerbildschirm irgendeiner Art. Eine Frage: wann haben Sie sich dieses Objekt das letzte Mal als das angeschaut, was es ist? Nämlich eine mehr oder weniger rechteckige Fläche mit vielen winzigen, verschiedenfarbigen Punkten drauf. In gewissen Bereichen dieser Fläche befinden sich grössere Ansammlungen von Punkten einer gewissen Farbe. Während ich diesen Text tippe, wechseln einige bisher weisse Punkte die Farbe: sie werden schwarz. Faszinierende Sache eigentlich.
Es fällt mir schwer, mich auf diese Punkte (Pixel) und Flächen zu fokussieren, ohne abgelenkt zu werden. Am ehesten geht es, wenn ich mich etwas vom Bildschirm entferne, oder im Gegenteil mein Auge sehr nahe daran lege. Von was werde ich abgelenkt? Vom Inhalt. Wären die Zeichen auf meinem Bildschirm Chinesisch - es fiele mir viel leichter, die Schönheit dieser Farbmuster auf meinem Bildschirm zu erkennen. Aber alles auf diesem rechteckigen Leuchtteil hat für mich eine Bedeutung, eine Funktion. Die Buchstaben, Worte und Sätze des Texts. Buttons, Listen, Menüleiste, Knöpfe zum Starten verschiedener Programme oder zum Umschalten der Ansicht.
Versuchen Sie es auch einmal. Betrachten Sie eine Minute lang nur das, was auf dem Bildschirm wirklich da ist. Ohne Benennungen, ohne Inhalte, ohne Funktionen, ohne Wissen. Riechen Sie daran. Betasten Sie Ihn und fühlen Sie die Textur und die Temperatur des Objekts. Betrachten Sie die Rückseite. Betrachten Sie die Form der Lichtpunkte und die Farben. Dann schliessen Sie die Augen, beobachten für ein paar Atemzüge das Ein- und Ausströmen der Luft in Ihrem Körper und beenden dann die Übung.
Nicht ganz einfach, oder? Eigentlich ist es so, wie bei sogenannten Kippfiguren oder Vexierbildern. Sie kennen wahrscheinlich das Bild mit der jungen Frau und der alten Frau (Link) von W.E. Hill. Beide Bilder sind in den gleichen Zeichenstrichen enthalten. Aber je nach Betrachtungsweise können wir jeweils nur den einen oder den anderen Bildinhalt wahrnehmen.
Das Umschalten zwischen den Inhalten benötigt einige Übung. Genauso ist es bei der unverfälschten Wahrnehmung der Realität. Jemand, der unser Alphabet nicht kennt und noch nie einen Computer gesehen hat, würde das Ding viel eher in seiner Essenz wahrnehmen können. Hingegen könnte er – im Gegensatz zu uns – das Gerät dadurch auch nicht benutzen. Das ist natürlich nicht das Ziel. Hingegen ist das „Umschalten-können“ eine sehr wertvolle Fähigkeit – nämlich die Fähigkeit, die Relativität der Dinge nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu erkennen.
"Sobald du das Kind den Namen des Vogels lehrst, wird es aufhören, den Vogel zu sehen." - Anthony de Mello
Dieselbe kleine Übung können Sie mit Fernsehbildschirmen machen, mit Werbeplakaten auf der Strasse, mit einem Buch, das Sie gerade lesen. Mit einem Gebäude, an dem Sie vorbeigehen. Mit Ihrer eigenen Hand oder Ihrem eigenen Fuss. Sogar mit anderen Menschen. Versuchen Sie ab und zu, die Sache zu sehen statt ihrem Namen, ihrer Funktion oder ihrem konzeptionellen Inhalt. So nahe wie möglich zur Essenz der Wahrnehmung zu kommen, die Sie von Ihrer Aussenwelt haben. Versuchen Sie, die verschiedenen Ebenen von konzeptionellen Inhalten zu erkennen, die Metainformationen, mit denen unser Gehirn die Sache versieht. Klar, wir sind als handelnde Wesen auf diese Art von Wahrnehmung angewiesen. Anders könnten wir nicht überleben. Wenn wir im Wald ein paar rote Beeren sehen, ist die Metainformation „Erdbeere, geniessbar“ oder „Vogelbeere, nicht geniessbar“ von grosser praktischer Bedeutung. Problematisch wird es erst dann, wenn wir die Metainformation (normalerweise gewonnen aus Erinnerungen mit ähnlichen Situationen/Dingen oder aus Urteilen, die ebenfalls mit erinnerten Erfahrungen stammen) mit der Sache an sich beginnen zu verwechseln. Dann werden wir das Verspeisen der Erdbeere nicht mehr wirklich geniessen können. Dinge nicht achtsam zu tun, lässt sich vom Standpunkt des Geistes aus mit dem Verspeisen der Speisekarte anstatt des Menüs vergleichen. Es lohnt sich, uns immer wieder mit der realen, zumindest von den abstraktesten Konzeptschichten befreiten Welt um uns herum und in uns zu beschäftigen.
Das ist die Basis aller Achtsamkeitswege. Tun Sie es. Zumindest ab und zu. Es lohnt sich.
Und wenn Sie Ihren Blick erst einmal für diese verschiedenen Wahrnehmungsebenen der Dinge geschäft haben, wenden Sie diese Methode auch auf Ihre Wahrnehmung von Lebewesen an. Von Ihnen selbst, ihren Mitmenschen, Mitwesen. Seien Sie aufmerksam. Schauen Sie, was sich bereits sehr nahe unter der Oberfläche unserer gewohnheitsmässigen Wahrnehmungsmuster und Urteile befindet. Ein Praktizierender des Tantrismus würde wohl sagen: es ist Schönheit, reine Schönheit. Diese Art von Schönheit, die kein Gegenteil besitzt, da sie die wahre Natur der Welt ist.
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